#01 –
marginalisiert, unsichtbar oder nichtintelligibel

Zusammengestellt von Sophia Leitenmayer
mit Arbeiten von Studierenden der HfBK Hamburg

Vortrag von Heidi Salaverría

Die Videoarbeiten dieses ersten Blocks nähern sich den vier Themenfeldern der Gesamtausstellung vielfach aus einer negativen Perspektive. Negativ nicht im Sinne einer Beschränkung auf kritische Diagnose und Bilderverbot, sondern eher wie das fotografische Negativ. Es kommt zu einer Ent-Selbstverständlichung. Der Hintergrund wird vordergründig, das scheinbar Randständige zentral, die zuvor unsichtbare Grundlage wird zum Gegenstand. Teilweise nehmen die Videos die Perspektive des Außen, der Andersheit, des Menschen als Alien ein: Das Nicht-Humane, der Raum – virtuell oder scheinbar natürlich, der schweigende Körper, die unverstandene Sprache, das Feuer, die Orange, der Schlüssel, der Spiegel, Mikroben, sogar die Zeit werden selbst zu Akteuren, die Fragen danach aufwerfen, wer wir sind – in Beziehung zu uns und zur Welt: der belebten, der unbelebten und der, die sich (wie ein Virus) zwischen Leben und Tod bewegt. Das, was in alltäglichen Praktiken marginalisiert, unsichtbar oder nichtintelligibel bleibt, wird in den Fokus gerückt; sichtbarer, spürbarer, verständlicher.

Die vier Themenfelder sind: I. Unmittelbarkeit (der eigene Körper / der andere Körper), II. Endgeräte – von Menschen und Maschinen, III. Unendlichkeit und IV. Räume (Das Private / das Öffentliche).

Dem ersten Themenfeld lassen sich die Arbeiten von Laskowski und Wanli zuordnen. Laskowski untersucht, verkörpert durch die Performerin Trinidad Martinez, eine Baustelle in Wilhelmsburg, als wäre Martinez eine Außerirdische oder als wäre diese künstliche Landschaft extraterrestrisches Territorium. Andererseits: Was heißt natürlich oder Natur? Wir können nicht zurück ins Paradies der Unberührtheit. Allerdings, wenn wir uns diesem Territorium mimetisch anschmiegen, können wir die Gewalt der „Logik der Kapital-Akkumulation“ umkehren, uns aneignen – als Reservoir einer zukünftig weniger entfremdeten Welt?

Wanli geht dem limitierten Rahmen von Zoom-Kommunikation nach. Welche Möglichkeiten hat ein Körper innerhalb des Zoom-Kamera-Ausschnitts? Was, wenn der eigene Körper versucht, diesen Raum schweigend zu erkunden und mit Leben zu füllen, wie ein Embryo den Mutterleib? Und wer bin ich, als Blickende*r, wenn ich meinem Gegenüber dabei zusehe, wie sie die Grenzen dieses Raums und damit meinen Blick testet? Wanli bringt die Unmittelbarkeit des eigenen Körpers in eine Spannung mit der Vermitteltheit der Zoom-Technik, die uns, insbesondere zu Coronazeiten, inter-subjektiviert: sie ermöglicht und begrenzt gleichzeitig.

Das zweite Themenfeld wird von Balke/Beyer, Güler und Jantzen bespielt. Balke/Beyer lassen uns virtuell durch Räume innerhalb einer Brücke fliegen, irgendwo zwischen Alptraum, Endzeitpoesie und Videospiel. Eine größtenteils unbelebte, unnatürliche Welt, in der Bruchstücke von Sprache und Zeichnungen an den nackten Wänden auftauchen. „Das ist mir so rausgerutscht“ steht da, oder „für die Ewigkeit.“ Dann wieder kryptische Zeichen wie aus dem Science-Fiction Film Arrival. Wer versucht hier, Kontakt aufzunehmen, und vor allem: Wer fliegt da unsichtbar durch diese Räume?

Güler setzt Maschinen wie Kühlschrank und Uhr (in einem Kühlschrank) ein, um die Protagonistin eine Zeitreise in ihre Kindheit erleben zu lassen. Sie repräsentiert dabei, aus der Perspektive des Mainstreams, den Inbegriff der Unsichtbarkeit: Eine ältere Frau nach den Wechseljahren in einer ärmlichen Wohnung, noch dazu mit Kopftuch, also migrantisch „markiert.“ Die Zeitreise scheint sie zu befreien, sie sieht aus wie ein glückliches Kind, doch weil ihr Verhalten völlig aus dem Erwartungsrahmen fällt, umweht die Szene Wahnsinn. Allerdings: Ist das nicht der Wahnsinn unserer eigenen Erwartungen und Projektionen?

Jantzen lässt uns Zeug*innen werden eines Experiments, in dem er in einer Mann-Maschinen-Pilz-Fahrrad-Konstruktion Pilze durch motorische Energieerzeugung ernährt und quasi mit ihnen eine Symbiose eingeht. Die Szene ist unheimlich, sexuell, absurd. Er schiebt sein Gesicht tief in eine Art organischen Helm und wird Teil der Konstruktion, die ihn obenherum wie eine Haut umgibt. Die Auflösung scheinbar klarer Körpergrenzen wird „normalerweise“ (Bsp. Film Alien) eher mit Weiblichkeit und Ekel in Verbindung gebracht. Hier nährt ein Mann Pilze. Tierwerden?

Das dritte Themenfeld Unendlichkeit spielt eine Rolle bei Seltmann, Vijan, Telles. Telles schält eine Orange vorwärts und rückwärts. Wir sehen nur eine Hand, eine Orange und ein Messer. Was ist das Gegenteil von schälen? Wieder-Ganz-Machen? Wer schält die Orange und für wen? Wer hat sie geerntet und wer darf sie essen? Warum fällt mir auf, dass die Hand braun ist? Alte Kolonialmacht-Sehgewohnheiten? Natürlich: Fruchtfleisch und Sinnlichkeit, Stillleben und Endlichkeit, aber eben anders. Keine Wiederholung ist identisch und gibt Hoffnung auf Veränderung, hypnotisches Wiederganzwerden gibt Hoffnung, dass nicht alles vergeht.

Vijan thematisiert Feuer und einen brennenden See in Indien. Aber den brennenden See sieht man gar nicht. Man sieht Rauch, Landschafts- und Stadtpartikel, hört Vögel, wird in eine nicht greifbare Stimmung hineingezogen. Es ist der Abfall, es sind die getrockneten Abwässer, die auf dem getrockneten See brennen. Früher diente der See als Bewässerungsreservoir. Feuer steht im Hinduismus für Reinigung und Zerstörung, bei Geburt und Tod gibt es rituelle Feuer. Was bedeutet es, wenn Seen brennen?

Seltmann lässt uns aus der Nase auf die Welt kommen, aus Mikroben, als Mikroben, Mikro-Makro, Rillen werden zu Fingerabdrücken, Tonanschlagen auf einer Saite, Ton in der Luft, können wir uns in Luft hineinversetzen? Spannung von Anonymität und Singularität, Menschenmassen, endloser Austausch von Körperflüssigkeiten, Rotz und Türgriffe, „atme die Menschen, atme ihren Atem,“ ironischer Bezug auf Atemmeditation, Corona, „kriegt man nicht anders hin,“ Ekel, „Touch-Hunger“ und diffundierende Perspektiven, Viren sind strenggenommen keine Lebewesen. Heißt das, sie sind unsterblich? Viren ist es egal, wo wir die Grenzen zwischen dem privaten und öffentlichen Raum ziehen.

Diesem vierten Themenfeld privater und öffentlicher Räume lassen sich Alkhiami, Rizaj, Seifert zuordnen.
Bei Alkhiami blicken wir von oben auf eine freiliegende schlichte Schublade, gefüllt mit Schlüssel, Pass und einem Notizbuch, in dem der nacheinander auf Deutsch und Arabisch vorgelesene gesprochene Text zu stehen scheint. Es geht um ihre Flucht aus Syrien, das Verlassen des eigenen Hauses. „Wir sind dazu verdammt,“ sagt Alkhiami, „Schlüssel für Häuser zu tragen, die nicht mehr existieren.“ Der Schlüssel entwickelt ein Eigenleben, er wird zum Speicher der Erinnerung, zum Trost, ebenso wie auch die Sprache ein Eigenleben zu entwickeln scheint (zumal wenn man wie ich kein Arabisch versteht), in der Erinnerung gespeichert ist.

Auch bei Risaj spielt Sprache eine wichtige Rolle. Sie problematisiert in ihrem Sprach- und Sound-Video die Frage, ob der Staat Kosovo überhaupt existiert, wenn er nicht von allen Staaten anerkannt wird. In ihrer Analyse, die autobiografische Erinnerungen und geopolitische Debatten koppelt, wird deutlich, wie sehr die Realität eines Staates abhängig ist von diversen umkämpften ökonomischen Machtinteressen und welche Gewalt und Zerstörung daraus resultiert. Wenn es den Kosovo in den Worten mancher gar nicht gibt, werden dann auch die mit ihm zusammenhängen Erfahrungen und Erinnerungen derealisiert, zunichtegemacht?

Ich-Bildung bedeutet, sich selbst von Außen sehen zu lernen. Dafür steht seit jeher symbolisch der Spiegel. Und zugleich für das Gegenteil, nämlich die Selbstverkennung durch narzisstische Selbstbespiegelung. Was würde passieren, wenn in einer Gesellschaft Spiegel verboten wären? Dieser Frage geht Seifert in ihrem dystopischen Schwarz-weiß-Video nach.

 

Mit freundlicher Unterstützung
der Behörde für Kultur und Medien Hamburg
und dem Bezirksamt Hamburg Mitte