Touristin der eigenen Denkungsart

Als Hannah Arendt davon sprach, dass man seine Einbildungskraft lehren solle, Besuche zu machen, hatte sie nicht nur die aktive Fähigkeit im Sinn, „eine Sache vom Gesichtspunkt des anderen her zu sehen.“ Es ging Arendt auch darum, die passive Angewiesenheit der eigenen „Denkungsart“ auf Andere in den Blick zu rücken. Denn Besuche machen kann nur, wer vorher eingeladen worden ist. Selbst bei einem unangekündigten Besuch ist man darauf angewiesen, vom Anderen eingelassen, in die Welt des Anderen hineingelassen zu werden.
Eine paradoxe Denkfigur: Man soll seine Einbildungskraft lehren, beim Anderen Besuche zu machen und gleichzeitig ist dies nicht etwas, das man aktiv erzwingen kann. Wie kann man sich in erweiterter Denkungsart üben, wenn diese sich auch passiv ereignet? Die Antwort darauf lautet, dass die eigene Denkungsart sich darin üben soll, sich von festgelegten, von regelgeleiteten Denkwegen zu verabschieden, um stattdessen neue, unbefestigte Routen zu erproben, und das heißt, von anderen Gesichtspunkten – oder von Gesichtspunkten Anderer – aus zu denken. Denn das Identische und die identische Wiederholung des Selben sind Fiktionen, die nur unter Aufbietung von Gewalt Realitätsgehalt gewinnen und beibehalten. Identitäten (individuelle, kulturelle oder andere) ähneln vielmehr Reisenden, welche die Orte wechseln und dabei selbst stets in Veränderung begriffen sind. Diese Veränderungen zu unterbinden ist etwas, das Adorno als identifizierendes Denken bezeichnete und das der erweiterten Denkungsart alle Wege abschneidet. Wird Veränderung nicht durch Gewalt unterbunden und lässt man stattdessen die Einbildungskraft frei, begibt sich das Denken von allein auf Reisen zum Anderen.
Es ist, mit anderen Worten, die passive Anerkennung der/des Anderen, durch welche sich die eigene Denkungsart erst entfaltet und erweitert. Interkulturelle Anerkennung, das ist die These dieses Aufsatzes, vollzieht sich, wenn die eigene Denkungsart auf Reisen geht und anderen Besuche macht – metaphorisch und nichtmetaphorisch. Die Einbildungskraft wird dann Touristin der eigenen Denkungsart.