Uwe M. Schneede/ Eröffnung 24. Jan. 2017/ Freie Akademie der Künste Hamburg

Thomas Rieck
Eröffnung 24. Jan. 2017
Freie Akademie der Künste Hamburg

 

Besser als ich erinnert sich Thomas Rieck, wann wir uns das erste Mal begegnet sind. 1982 zeigte er zusammen mit anderen jüngeren Künstlern Werke im Ausstellungsraum von Rainer Fichel in der Fettstraße. Sie müssen mich so beeindruckt haben, dass wir ihn einluden, ein Jahr später an der Ausstellung „Künstler-Räume im Kunstverein und anderswo“ teilzunehmen. Künstler wie Raimund Kummer, Inge Mahn, Olaf Metzel schufen eigens Installationen für Räume in der Stadt, für eine ehemalige Kapelle, für einen Boden in der Speicherstadt, für das nicht mehr existierende Spritzenhaus auf Kampnagel oder für die leerstehende Schwimmhalle am Spielbudenplatz. Für Thomas Rieck fand sich eine verlassene Wohnung über dieser Schwimmhalle. Er schuf eine rätselhafte Installation aus Zeichnungen und Objekten und damit eine befremdliche Atmosphäre in den abgenutzten Zimmern.

Unsere Aufenthalte in der Villa Massimo 1985 überschnitten sich leider nur um wenige Tage. Jedenfalls gehöre ich seit diesen frühen 80er Jahren zu seinen Bewunderern. Wenn ich in aller Kürze sagen sollte, warum, dann vielleicht so: Mich fasziniert der permanente Experimentierprozess, der immer wieder überraschende, seltsame Figuren, Bilder von Figuren hervorbringt. Ich will versuchen, das noch ein wenig genauer zu begründen.

Diese Ausstellung ist keine bloße Aneinanderreihung von Einzelwerken, sondern eine Zusammenfügung, eine Verschränkung unterschiedlicher Motive, unterschiedlicher Macharten, unterschiedlicher Formate, von Werken aus unterschiedlichen Entstehungszeiten. Dieses kombinatorische Häufen scheint mir bezeichnend überhaupt für Thomas Riecks künstlerische Arbeit, wenn nicht gar eine symbolische Form für seinen spezifischen Kunstansatz. Denn in diesem Werk gibt es eigentlich keine lineare Entwicklung, weshalb auch eine sonst übliche chronologische Hängung nicht die adäquate Präsentationsform wäre.

Thomas Rieck nämlich weitet seine Experimente mit Tinkturen und Materialien ständig aus, das wachsende Gespür für die Richtungen des Zufalls, der dabei eine wesentliche Rolle spielt, erlaubt ihm stärkere Verdichtungen der Figuren und Figurationen, aber entscheidend ist nicht ein linearer Fortgang, sondern die Ausdehnung in die Breite, die Ausweitung der Bildwelt, die ständige Anreicherung, die Vermehrung seiner obskuren Bildwesen – er selbst spricht von „kontrollierten Wucherungen“. Die Stirnwand dieses Ausstellungsraums bietet die anschauliche Form der Präsentation dieser „kontrollierten Wucherungen“.

Wenn man nun aber ins Detail geht, nimmt die Verwirrung zu, und es stellt sich vor allem die Frage, wie kommt Thomas Rieck zu diesen merkwürdigen Köpfen, diesen Einzelfiguren, diesen verschlungenen Paaren, was inspiriert ihn, was leitet ihn, wie kommt er dazu, und wie findet er immer wieder neue abweichende Bilder?

Ich denke, hier ist außerordentlich wichtig, sich das technische Vorgehen, besser: die technischen Vorgehensweisen vor Augen zu führen, die Thomas Rieck im Laufe der Zeit zur Vergegenwärtigung dieser Figuren und Figurationen selbst und eigens entwickelt hat.

Thomas Rieck zeichnet, sagen wir, einen Kopf. Die ersten Anregungen können von Dürer oder Goya oder Tübke, aus Kinderbüchern oder literarischen Texten, von Comics oder eigenen Fotos kommen. Bei diesem Skizzieren mit dem Stift auf Papier aber belässt Thomas Rieck es nie. Der eigentliche Bildprozess beginnt, wenn er eine solche Skizze z. B. auf einem durchscheinenden Träger anlegt oder sie mit Substanzen versieht, die auf die Rückseite durchschlagen. Dann ergibt sich ihm die Möglichkeit, die Rückseite so zu überarbeiten, dass sich durch Überlagerungen eine doppelte, eine irritierende, verunklärende Gestalt ergibt. Das sind diese Überblendungen, die Sie hier etwa an allen Köpfen beobachten können.

Dabei kann die Rückseite durch solche Überarbeitung durchaus zur Hauptansicht werden, während das Ausgangsbild im Verborgenen hinter der gegenwärtigen Schauseite verharrt. Sie müssen sich vorstellen, dass die meisten der hier gezeigten Werke solche geheimen Hinterbilder aufzubieten haben.

Nimmt man zu diesem indirekten Zeichnen noch eine ganz einfache Technik hinzu, die Thomas Rieck gern praktiziert hat, nämlich das Zeichnen mit dem Finger auf der Rückseite von Kohlepapier, so dass auf der Kohleseite eine für ihn beim Zeichnen zunächst nicht sichtbare Figur entsteht – eine Form des blinden Zeichnens -, spätestens dann fühlt man sich an bestimmte kunsthistorische Praktiken erinnert. Ich meine die Écriture automatique und den Cadavre exquis der Surrealisten und vor allem Max Ernsts inspirierende Techniken, besonders die Frottage (aus der dann noch die Décalcomanie und die Grattage hervorgingen).

In einem wie ein historisches Ereignis auf Tag und Ort datierten Bericht über die Entdeckung des Frottage(also Durchreibe)-Verfahrens berief sich Max Ernst ausdrücklich auf Leonardo, der in seinem Traktat von der Malerei geschrieben hatte, man könne „den Geist zu mannigfachen Erfindungen“ anregen, indem man sich in fleckiges Gemäuer hineinsähe; es ließen sich darin womöglich Landschaften, Schlachten und seltsame Gestalten ausmachen.

So heißt es bei Max Ernst: „Am 10. August 1925 brachte mich ein unerträglicher visueller Zwang zur Entdeckung der technischen Mittel, um diese Lektion Leonardos weitgehend zu verwirklichen.“ An einem regnerischen Tag in einem Gasthaus an der Küste sei er in einer Art Wachtraum gepackt worden, „von dem visuellen Zwang und der Irritation, die vom Anblick Tausender von Kratzspuren auf den Fußbodendielen ausgingen“. Er habe begonnen, diese Spuren auf Papier durchzureiben. „Beim Betrachten der so gewonnen Zeichnungen … überraschte mich die jähe Intensivierung meiner visionären Fähigkeiten und die halluzinierende Folge widersprüchlicher Bilder.“ Er fügte hinzu, der Charakter des befragten Materials habe sich durch die von ihm ausgehenden Suggestionen nach und nach verloren; „unerwartet scharfe Bilder“ seien dabei entstanden. Dergestalt habe er – in den Worten Rimbauds – als ein „normal veranlagter Mensch“ alles getan, um seine „Seele in ein Monster zu verwandeln“.

Das herkömmliche Zeichnen, also das Entwickeln der Figur aus dem Strich, war damit abgelöst oder besser: um eine neue, zeichnungsähnliche Praxis erweitert. Aus der Wechselwirkung zwischen den ausgewählten Fundstücken, dem interpretierenden Blick und dem entsprechenden Eingriff des Autors wird die Zeichnung nicht geschaffen, nicht erfunden, sondern: „gewonnen“. Max Ernst, der Autor, sah sich selbst ungern als Schöpfer; er sei lediglich der Auslöser und Lenker dieses Prozesses der Bildgewinnung.

Diese Wechselwirkung legt den „Mechanismus der Inspiration“ offen, nämlich das Weiterführen einer erhellenden Idee. Die gelenkte Inspiration macht an den vorgefassten und den erinnerten Bilder vorbei das noch Ungeschaute gegenständlich sichtbar, und die erkannte Inspiration erlaubt ihren bewussten Einsatz. Frottage, schrieb Max Ernst folgerichtig, sei „nichts anderes als ein technisches Mittel, die halluzinatorischen Fähigkeiten des Geistes zu steigern, dass ‚Visionen’ sich automatisch einstellen, ein Mittel, sich seiner Blindheit zu entledigen.“

In dieser Tradition steht Thomas Rieck, hier setzte er an, nicht im Technischen, sondern in der praktischen Anwendung der erkannten Inspiration zur Gewinnung ungekannter Bilder. Dazu baute er seine ganz eigenen auslösenden Bildpraktiken aus. So hat er beispielsweise aus einem normalen Spritzfläschchen ein spezielles Gerät für das Zeichnen mit Acryllack entwickelte, Acryllack, der mit Beize versetzt wird – die Beize schlägt durch, so dass Thomas Rieck, so sagt er, „noch eine andere Möglichkeit“ hat, nämlich eine bildlich weiterführende Möglichkeit.

Oder es wird eine Zeichnung mit Grundierungsfarbe abgedeckt. Die aufgetragene Zeichnung mit Beize wächst überraschenderweise bläulich durch die Abdeckung hindurch, was eine neue, unerwartete Anregung zum Weiterarbeiten bedeutet.

Oder nehmen Sie die große Frauenfigur hinten an der programmatischen Stirnwand: Am Anfang steht eine kleine Skizze, der eine neu vergrößerte Version folgen mag. Sie wird fotografiert, aber nicht als Ganzes, sondern in einzelnen Details, davon werden große Abzüge gemacht, die Rieck wieder zur Figur zusammensetzt. Darüber wird noch einmal gezeichnet, und zwar mit haptisch wirkendem Lack, und dann in den Lack kratzend hineingearbeitet. Im Wasserfarbenbad, das mit schwarzer Beize versetzt war, entstand der schwarze, glänzende Fond.

Man sieht, es sind permanente Verwandlungsvorgänge, die von Thoms Rieck betrieben werden – Impulsketten -, um durch einen laufenden Inspirationsprozess das Ungesehene sichtbar zu machen. So können auch eigene, früher entstandene Blätter Anstöße zu neuen Überarbeitungen bieten. Man muss sich wohl vorstellen, dass dieses Werk aus einem permanenten Verwandlungs- und Bildgewinnungsprozess hervorgeht und dieser Prozess Bild auf Bild aufbauend das Werk lebhaft in Gang hält im Sinne der „kontrollierten Wucherungen“.

Treibende Kräfte sind dabei das Experiment mit Substanzen und Materialien sowie der damit einhergehende Zufall bei den unvertrauten und ungewöhnlichen Begegnungen von Substanzen und Materialien, genauer: eine der treibenden Kräfte ist der von Thomas Rieck herausgeforderte Zufall. Denn Thomas Rieck sucht die Überraschung, er führt sie herbei als Antrieb für weitere Bildgewinnungen. Und was bei den alchemischen Coagulationen herauskommt, ist oft ungewiss.

Experiment und Zufall führen auch dazu, dass kein Blatt dem anderen gleicht, alle sind sie Individuen, was auch bedeutet: ihre Einordnung ist schwierig, es ergibt sich kein einheitliches Bild, keine erkennbare Marke – was sicher auch die Rezeption des Werks von Thomas Rieck erschwert.

Aber die immer wieder neuen Ansätze und Bildlösungen haben zu diesem immensen bildlichen Reichtum geführt, der in dieser Ausstellung jedenfalls angedeutet wird. Es ist ein eigener Kosmos aus ungekannten Bildern, „unerwartet scharfen Bildern“ (MaxErnst) entstanden.

Und was sind die fassbaren Resultate der vielfältigen Bildprozesse? Sie sehen sie um sich herum: Menschen, Tiere, Unwesen, Mischwesen, oft monströs, manches grotesk, dann wieder erschütternd. Die Gestalten wirken oft wie durchleuchtet, transparent, das Äußere ist angedeutet, aber nur zum Hineinsehen. Der durchdringende, eindringende Blick ins Innere der Figuren, der Paare wird herausgefordert. Und wenn Sie sich das Tableau der 49 Köpfe im Vorraum anschauen, sehen Sie eine Galerie der Entgeisterten, der Deformierten, Entsetzten, der Außer-sich-Seienden.

Schon 1996 im Katalog zur Rieck-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle hat Hanna Hohl, die damalige Leiterin des Kupferstichkabinetts, treffend formuliert: „Rieck schafft in seinen Zeichnungen eine Gegenwelt, freilich nicht die einer höheren Harmonie, sondern die des rational nicht Beherrschbaren, das als Faszinosum des Ungeheuerlichen, als elementare Kraft auch des leisen Schauers in die Ordnung und Normalität einbricht. Daraus entstehen die Missgeburten, die Mischwesen und symbiotischen Doppelwesen, die alptraumartigen oder tragischen Phantome.“

Ich finde wunderbar, dass es diese Ausstellung nun gibt, eine Ausstellung, die schließlich im Einzelnen mit ihren „unerwartet scharfen Bildern“ und im Ganzen mit den „kontrollierten Wucherungen“ den Rieckschen Kosmos als neues Kunstwerk vergegenwärtigt.

 

Uwe M. Schneede