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HYPER CULTURAL PASSENGERS

„Mit einer erweiterten Denkungsart denken heißt, dass man seine Einbildungskraft lehrt, Besuche zu machen.“
(Hannah Arendt)

Was können Kunst und Kultur als Teil einer Welt der Gleichzeitigkeit bedeuten, in der Touristen aus dem Norden im Amüsement eines Jahresurlaubs sich in südlichen Meeren baden, während ihrer Existenz beraubte Flüchtende in identischen Gewässern auf tödliche Fahrt gehen? Was verspricht Kultur, wenn ihre Mobilität in Überschallgeschwindigkeit Entfernungen verkürzt und deren Orte zeitlich zusammenrücken? Was bedeutet Kultur aus der nichteuropäischen Perspektive des Ostens und des Südens in Zeiten des weltweiten digitalen Austausches von Daten und Informationen? Wie können wir Ideen wie Kunst, Kultur, Ästhetik auf eine Weise umdeuten, die identitäre Erstarrungen aufbricht?

Das Projekt Hyper Cultural Passengers (HyCP) problematisiert den Mythos des autonomen Subjekts und schlägt stattdessen die Figur des hyperkulturellen Passagiers vor.

Dieser Passagier begibt sich metaphorisch auf eine Reise: Er interpretiert und hinterfragt die Idee einer scheinbar festen und untrennbaren Verknüpfung von Kultur und Identität. Der Passagier lässt dieses Festland hinter sich und navigiert auf „Ortwechsel des Denkens“ (Jullien) zu.

Anstelle eines vermeintlichen „Clash of Cultures“ zeigt das Vorhaben HyCP ebenso Nähe wie konstruktiven Dissens künstlerischer und gedanklicher Artikulationen auf, quer zu nationalen und kulturellen Zuordnungen. Es sucht nach Familienähnlichkeiten (Wittgenstein) scheinbar fremder Kunst- und Kulturpraktiken. Es bietet zwanglosen Austausch von künstlerischem Handeln und theoretischer Reflexion. Es macht das Subjekt als Passagier erfahrbar.

Heute selbstverständliche Begriffe wie Kultur, Ästhetik und Freiheit, aber auch Begriffe wie Aufklärung, Identität und Nation sind relativ jung. Sie wurden alle ungefähr zeitgleich in der abendländischen Moderne erfunden und entfalteten ihre Wirksamkeit im Zuge der wirtschaftlichen und kriegerischen Expansion Europas. Die Idee des künstlerischen Genies, die Ideen von Ästhetik und Kultur sind untrennbar verknüpft mit Europas kolonialem Ausbau von Handelsrouten und der Versklavung von Nichteuropäern. Die ökonomische Grundlage westlicher Freiheit war die Unfreiheit anderer. Wenn man in großen Bögen denkt, sind die gegenwärtigen Flüchtlingsströme eine Folge und Gegenreaktion auf Jahrhunderte währende Hegemonialstrategien Europas und später der USA.
Hier setzt das Projekt Hyper Cultural Passengers an: Wie können Kunst und Philosophie dazu beitragen, Räume des Austausches zu erzeugen, die nicht territorial und von nationalen Selbstbehauptungen getragen sind?

Als Passagiere von HyCP werden Künstlerinnen und Künstler Teil eines internationalen Künstleraustausches und auf hyperkulturelle Reisen gehen. HyCP ist Partner im Kunst- und Kultur-Netzwerk Portjourney, das seit einigen Jahren Hafenstädte weltweit mit Kunstaktionen verbindet. Portjouney wurde 2012 in Yokohama gegründet und verbindet heute Partner aus Südkorea, China, Australien, Frankreich, Deutschland, Niederlande, Finnland und den USA. Das Netzwerk wächst und wird erweitert. In dieser Zusammenarbeit mit Portjourney sind für Hamburg 2016/17 zahlreiche Künstler-Reisen, Künstler-Austausche und zwei internationale Konferenzen geplant. Darüber hinaus bietet HyCP ein Reflexionsforum mit Vorträgen und Diskussionen in Hamburg und den Partnerstädten an. HyCP schickt Kunst-Schaffende und Kultur-Denker auf eine gemeinsame, imaginierte und tatsächliche große Fahrt.

„And All Of It Is Yours And Mine
So Let’s Ride And Ride And Ride And Ride“
(Iggy Pop/The Passenger/1977)

 

Text by Heidi SalaverrÍa & Michael Kress