#04 –
Naturwahnsinn, metaphysische Mikroorganismen, Privateigentum und Frag-den-Wald, „Traumaunterhaltung“, Barrierefreiheit

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KOOS BUIST, GRONINGEN, Sloot, 2016

Um spektakuläre Unterwasseraufnahmen zu machen, muss man nicht zum Great Barrier Reef fahren. Man kann auch in niederländische Gräben abtauchen wie Koos Buist. Vivaldis Vier Jahreszeiten aus der Perspektive metaphysischer Mikroorganismen auf LSD. Sprechende Frösche und eine Kinderstimme, die am Anfang konstatiert: The creator took the something. So the tale starts with nothing. Es gurgelt und schmatzt, Musik gibt es auch. Die Geschichte fängt mit Nichts an. Untertitel: In conversation with Ouroboros. Dann kommen pulsierende Einzeller, die zu uns sprechen. Eine Zelle ist umschlossen von einem schlangenähnlichen Wesen. Es knirscht und gluckert. Ouroboros – griechisch für Selbstverzehrer – ist die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, ein uraltes Kreissymbol für die Ewigkeit, nicht nur aus dem alten Ägypten bekannt, sondern in ähnlicher Form auch in nordischen Mythologien und den indischen Upanishaden. Winter: Es pulsiert und pocht weiter, es gibt morastige Unterwasserfahrten unter Wasserdecken (gefroren?), Leben in seinen unterschiedlichsten Stadien, dann Frühling. Kaulquappen in Schwärmen wie sonst Heringsschwärme bei Mare TV; die verschiedenen Wesen oder Wesensstadien sprechen, als hätte man ein mystisches Erlebnis, I don’t share your questions… seek without a purpose… you seek boundaries that do not exist, es tauchen Hydras auf, die gibt es wirklich, Süßwasserpolypen, aber auch die mythologische Wasserschlange, der zwei Köpfe nachwachsen, wenn sie einen verliert. Das würde ja heißen, die Schlange vermehrt sich, indem sie sich verzehrt. Dann Sommer, longing for alleviation, sich nach Linderung sehnen, komischerweise wird es dann unheimlicher, gar nicht so fröhlich wie sonst die Menschenperspektive darauf.

Als würde dem Sommer schon sein Ende schwanen – dann, wenn’s am grünsten ist. Trauer vorträglich. Frosch spricht, wie ein Außerirdischer, seine Ansprache ist irgendwie tröstlich. Denn die Zellen machen ihr Ding, Angst vor dem Tod ist ihnen fremd, unsere selbstgemachte Klimakatastrophe lässt sie kalt. Without eyes we see unity.. the void between us is inherent in this, es knirscht wieder, als wenn etwas versucht, sich durch etwas zu drängen, obwohl es zu eng ist.

Ein ehemaliger Studienfreund wollte mir einmal unbedingt eine Passage aus einem Roman vorlesen, die beschreibt, wie jemand in Transsylvanien (in einer anderen Zeit) gepfählt wird. Eigentlich wollte ich nur weg, habe es mir aber trotzdem angehört. Wie mit großer Sorgfalt der Pfahl unten in den Darm eingeführt wird, und der ganze Körper vorsichtig, mithilfe von Hämmern, allmählich auf den Pfahl geschoben und geklopft wird. Wie sorgfältig darauf geachtet wird, dass dabei keine inneren Organe verletzt werden, Leute waren darauf spezialisiert. Und wie dann irgendwann die Spitze des Pfahls oben seitlich an der Schulter heraustritt. Dass die Gepfählten dann bis zu vier Tagen überleben konnten, mit ausdruckslosem Gesicht, dass der Vorgang des Pfählens geknirscht hat und die Opfer merkwürdig still waren. So erinnere ich das jedenfalls.

Revelation… the creator… Die Offenbarung des Johannes ist die Ankündigung der Apokalypse. Herbst: Eine bestialische von Menschen gemachte Maschine mit Metallzähnen fräst sich durch den Schlamm, zum ersten Mal sieht man die Wasseroberfläche von außen, und nach all der Magie wirkt der Wassergraben auf einmal banal, man sieht Entengrütze. All-eins-Erlebnisse haben Menschen in Psychosen, in mystischen Erweckungen oder auf Drogentrips. Biopsychologisch unterscheiden Psychosen und mystische Erlebnisse sich nicht. All-eins ist auch die Perspektive eines Säuglings, eines Kleinkinds, bevor es Ich-Sagen lernt. Ich zu sein, mit der Kränkung der Begrenztheit klarzukommen, ist eine Art Methadon-Programm, Ersatz für den Heroinrausch des All-eins. Es ist nicht DAS, aber besser als nichts. The creator took the something. Vielleicht tun wir uns deswegen Dinge an, weil wir die Grenzen zu den Anderen aufessen wollen, um wieder im All-eins zu sein. Grenzenlos sein wollen, als wären wir Gott. Den Anderen ihr Etwas wegnehmen, damit sie nicht länger ihr eigenes Ding haben, getrennt von uns. Dann sind wir wieder zusammen. Denken wir. Aber das ist eine Perspektive, die den Menschen wie mit einer Landwirtschaftsmaschine behandelt.

 

XIN CHENG, TAIPEH/AUCKLAND, Seeing like Forest, 2019

Frag den Wald. Seeing like a Forest heißt die Arbeit von Xin Cheng, und es geht vordergründig gar nicht um Wald, sondern um menschengemachte Settings. In dem Video sieht man Waldboden, darauf Fotos und Xins Hände. Xin spricht über die Fotos. Man sieht zum Beispiel einen Ort in einem Park in Taiwan, an dem jemand eine Art Tisch und eine Vorrichtung angebracht hat, aus der man sich Tassen nehmen kann. Auf dem Tisch kann man eine Teekanne abstellen. Es entsteht ein öffentlicher Raum, den die Leute sich gemeinschaftlich aneignen und teilen. Menschen stellen Tee und Tassen für anderen Menschen bereit, damit sie sich daran erfreuen. Einfach nur so. Aber was heißt hier einfach nur so? Aus Sicht von Management-Motivationsseminaren für CEOs muss solches Verhalten unverständlich, geradezu lächerlich erscheinen. So generiert man keinen Profit – könnte man jedenfalls denken. Denn der Neue Geist des Kapitalismus hat sich, wie Ève Chiapello und Luc Boltanski argumentieren, die sogenannte Künstlerkritik der 1960er und -70er zu eigen und zunutze gemacht. Das System hat die Künstlerkritik gefressen. Nun geht es um Teamarbeit und Flexibilität, Vernetzung und Selbstorganisation bei gleichzeitiger Innovation und Inspiration. Die Schraube des Kapitalismus um noch eine Drehung enger gezogen. Für die kreativen Mitarbeiter:innen gibt es als Incentives Kurse, in denen sie sich selbst und die Gemeinschaft spüren können, bestimmt gibt es auch Seminare mit tollen asiatischen Teezeremonien. Die Hierarchien sind flach, es fühlt sich fast an, als wäre man ein Kollektiv ohne Chef.

Es gibt aber einen fundamentalen Unterschied zu den Settings, die Cheng beschreibt. Denn die Togetherness bleibt Mittel zum Zweck. Allem zugrunde liegt weiterhin die knallharte Belohnungs-Bestrafungs-Logik kapitalistischer Tauschverhältnisse, und dass die Hierarchien doch nicht so flach sind, merkt man spätestens, wenn es ums Geld geht. Allem zugrunde liegt weiterhin ein pervertierter Wachstumsgedanke, der mit wirklich vernetzten und regenerativen Wachstums- und Austauschprozessen wie im System Wald aber auch gar nichts zu tun hat. Und natürlich ist hier der kapitalistische Eigentumsbegriff zentral, der so selbstverständlich geworden ist, dass man es sich heute anders kaum vorstellen kann. Dabei ist dieser Begriff eine verhältnismäßig neue Idee. Vor der Neuzeit, und außerhalb Europas, war Gemeineigentum üblich, nicht Privateigentum.

Der Philosoph John Locke, der selbst in Sklavereigeschäfte verwickelt war, hatte 1690 den verrückten Einfall, dass die Menschen Gott gehören. „Sie sind sein Eigentum.“ Gleichzeitig sagt er, dass jeder Mensch ein „Eigentum an seiner eigenen Person“ hat. Wie Daniel Loick zeigt, versucht Locke in seiner Theorie den Kolonialismus zu legitimieren: nämlich durch die „Individualisierung der Arbeit und die Einführung des Geldes als Überlegenheitsmarker“ (Loick) gegenüber dem gemeinsamen Arbeiten und dem Gemeineigentum der „wilden Indianer“ (Locke), die es verdienen, für ihr vermeintlich unkultiviertes Brachliegenlassen des Landes bestraft und unterworfen zu werden. Wie Gott als vermeintlicher Privateigentümer gegenüber den Menschen, so führen sich die Kolonialherren gegenüber den Sklaven auf, als ihre Eigentümer, nur dass sie sie darüber hinaus noch zu einer Sache erklären, zu einem Ding, das man verheizen kann. Privateigentum war im Wesentlichen, wie Eva von Redecker ausführt, männlichen weißen Bürgern vorbehalten. Sie nennt es „absolute Sachherrschaft.“ Diese Sachherrschaft geht einher mit der selbsterteilten Autorisierung zu „grenzenloser Verfügung,“ inklusive der Möglichkeit der Zerstörung. Diese Vorstellung „hat mit Kolonialismus und kapitalistischer Globalisierung jeden Winkel der Welt erobert.“

Mit diesem verheerenden Eigentumsbegriff einher geht das Problem der Verschwendung. Verschwendung und der Glaube, dass der Vorrat der Natur unerschöpflich ist, sind die andere Seite der Zerstörungs-Medaille: dass Mutter Natur für lau erträgt und gibt und regeneriert. Wenn der unterworfenen Natur jeder Eigenwert abgesprochen wird und sie nur für mich da ist, verliere ich nicht nur den Kontakt zu den komplexen und filigranen Wechselbeziehungen von Biotopen. Letztlich verliere ich den Kontakt zu mir selbst und damit den Bezug zur Realität.

Realitätserfahrungen müssen deswegen immer wieder neue Rekorde brechen, vor allem immer wieder neu sein, um überhaupt zum Menschen durchdringen zu können. Davon sind auch Kunst und ästhetische Theorien nicht frei, wenn es besonders hoch, tief, monumental, schockierend, erhaben, absolut anders, etc. zugehen soll. Auch ein Statussymbol.

Im Vergleich dazu wirkt Xin Chengs Arbeit alltäglich, klein, beiläufig. Es geht um den Wert und das Eigenleben von Alltagsgegenständen, um soziale Praktiken und Gebrauchsobjekte, die niemandem gehören, um Findigkeit in der Pflege und Reparatur von Dingen und Beziehungen, um everyday resourcefulness. Die Kraft ihrer Arbeiten besteht aber gerade darin, dass sie sich das Recht herausnehmen, leise zu sein und das kapitalistische Spiel der Kräfte nicht mitspielen. Einfach nur so Tee und Tassen für andere Rentner:innen im Park bereitzustellen, ohne Hintergedanken, ist – so betrachtet – revolutionär. Es setzt der bestehenden Eigentumslogik etwas entgegen. Es trägt, um es mit Redecker zu formulieren, bei zu der „Hoffnung auf andere, zärtlichere Verhältnisse.“ Und, in den Worten von Richard Sennett, den Xin Cheng im Video zitiert: „To care about what one sees in the world leads to mobilizing one’s creative powers.“ Wenn einem die Dinge am Herzen liegen, die man in der Welt sieht, setzt dies kreative Kräfte frei, die dem egologischen Größenwahn etwas entgegensetzen können. Sie widersetzen sich damit auch einer Logik, die bereits in ihrem Blick Gewalt antizipiert. Wer anders guckt, handelt anders.

 

WOLFGANG OELZE Hamburg, Visite #1, 2019

Es ist alles ein Wahnsinn. Erst entdecken die Menschen Atome und die Radioaktivität, dann bauen sie Atomkraftwerke, vergessen bzw. verdrängen dabei aber das Problem der radioaktiven Abfälle (quasi Flugzeug gebaut, aber Landebahn vergessen), kommen dann auf die Idee, sie in Salzstollen unter der Erde zu deponieren, zum Beispiel in Gorleben. Deswegen gibt es dann 1980 in Gorleben massive Proteste, der Platz wird von ca. 5000 Personen besetzt, Atomkraftgegner:innen errichten aus Protest ein Hüttendorf und rufen die Republik freies Wendland aus. Das Lager wird von etwa 3500 polizeilichen Einsatzkräften geräumt, noch während der Räumung werden die Hütten mit Planierraupen zerstört.

Dann, 2017, kommt ein Doktorand namens Attila Dézsi und betreibt dort archäologische Forschung, nicht etwa über die Steinzeit, sondern über die Proteste und das Hüttendorf in den 1980ern. Soll das ein Witz sein? Aber gute Witze sind ja immer sehr ernst. Die Studie gibt es tatsächlich. Er beschreibt seine Forschung als interventionistische Archäologie. Auf Kritik antwortet er damit, dass seine Forschung paradox sei, außerdem „sei die Trennlinie zwischen „lange genug her“ und „grabungswürdig“ gegenüber „noch nicht lange her“ und „nicht grabungswürdig“ schwer zu ziehen“ (so Wikipedia). Bei den Ausgrabungen, so liest man, finden sich verschiedene Alltagsgegenstände wie Löffel und eine Tasse sowie eine Frischkäsepackung mit einem Mindestaltbarkeitsdatum vom Juni 1980. Weitere Fundstücke sind unter anderem eine Whiskyflasche und ein Exemplar der Satirezeitschrift Titanic. Also dadaistische Forschung, zum Schreien, gleichzeitig ziemlich durchdacht. Denn man könnte zurückfragen: Ist die Endlageridee nicht mindestens so verrückt wie diese Dada-Forschung?

Dann kommt Wolfgang Oelze und macht ein Video über den Ort, an dem mittlerweile Bäume nachgewachsen sind. Zu Beginn sieht man hellen Sand, der so gar nicht hierher passt. Der stammt von den Aufschüttungen nach den Ausgrabungen. Ein Gefühl von Unter-Wasser-Sein entsteht, frühlingshaftes Sonnenlicht strömt an windbewegten Ästen und Blattwerk vorbei auf den Boden, Schattenspiele. Mir fallen Aufnahmen von überschwemmten Landschaften ein, bei denen dann unter Wasser noch die belaubten Bäume und Gräser zu sehen sind, wie Wasserpflanzen, als hätten sie sich im Aggregatzustand geirrt.

Zu diesem Eindruck trägt sicherlich die Kamerafahrt bei. Aus der Perspektive einer Nahbodenwolke (wenn es so etwas gäbe) mit der unbarmherzigen Gleichmäßigkeit eines Bildschirmschoners, streicht der Kamerablick (wie ich lese, in einer räumlich gedrehten Acht) über Teile vom Waldboden im Wendland. Oder eben wie eine Unterwasserfahrt, schwer greifbar.
Die Kamerafahrt reitet fast schon auf ihrer Schwerelosigkeit herum, als wäre sie eine fixe Idee. Zwischendurch wird es dunkler, man sieht Teile eines Kamerastativs, auf einmal wirkt der Boden mit Laub und Ästen abstrakt und dann man weiß nicht mehr, wo oben und unten ist. Als wäre der Boden ÜBER einem, was ja, wenn man den Globus aus dem Weltall betrachtet, tatsächlich so ist. Anders gesagt, oben-unten werden optional verunklart, was leichten Schwindel erzeugt. Bilde ich mir das ein? Kamera schwebt weiter: Nein, ist so gemeint, nun befinden wir uns wirklich auf dem Kopf, gleitend. Georg Büchners Lenz hätte das gefallen, denn: „Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehen konnte.“ Als wäre die Erde, teilweise begrast, das Dach über uns, von dem die Bäume hängen, zartbesaitet. Die Welt steht Kopf, soviel ist klar. Irre ist bloß, wie hier die Bewegung in die Kopflosigkeit hinein dargestellt wird, nämlich fast unmerklich.
Es gibt einen Kipppunkt zwischen Angst und Wahnsinn, wenn der Wahnsinn in seiner Grenzenlosigkeit lockt, himmlische Freiheit verspricht. Mir fällt das Stück von Soap and Skin über den Tod ihres Vaters ein: „Um alles in der Welt, das dich am Leben hält, Zerschlag’ ich auch mein Himmelszelt, Auf dass es unter dir zusammenfällt, Und du dich neigst, Und du dich endlich wieder zeigst…“ Aber wann genau es dann kippt, sich neigt: nicht vorhersehbar, nicht kontrollierbar.

Nun aber fliegen wir höher (bzw. tiefer), man kann den Himmel sehen und weiter gucken, aber Himmel auf dem Kopf ist haltlos. Diese Unklarheit zwischen Fliegen und Schwimmen, wie in einem (Alp-)Traum. Die Naturwahrnehmung wird halluzinogen, wäre hier das Atommülllager, das Strahlen des Frühlingsgrüns wäre noch unheimlicher. Dialektik der Aufklärung, Mythos und Aufklärung fallen ineinander, ohne aufzuprallen. Naturwahnsinn und die stählerne Rationalität der zwingenden Kamerafahrt, immer weiter. Im Video landen wir irgendwann wieder auf den Füßen, vorerst. Bei dem Titel Visite #1 stelle ich mir eine Arztvisite in der Psychiatrie vor, die erste von vielen. Die Vorstellung von unberührter Natur, total phantasmatisch, eine Projektion… Kranke Kiefern, leuchtende Birken, einmal lebte ein Mann mit Downsyndrom in den Alsterdorfer Anstalten, Mädchen nannte er immer Lachebaum. Diese Birken sehen aus wie Lachebäume.

 

ADNAN SOFTIĆ, Berlin/Hamburg,
Like water under the Bridge/Wie Schnee von gestern, 2014

Es gab eine Zeit nach den Anschlägen in Paris, in denen ich viel U-Bahn fahren musste und paranoid wurde, sobald jemand nervös eine größere Tasche vor sich abstellte (und, ich gebe es zu, schwarze Haare hatte und vielleicht einen Bart. Schlimm, aber so war das). Irgendwann dachte ich (das war vor Corona), dass es doch verblüffend ist, mit wie viel Urvertrauen wir in volle Bahnen und Busse steigen, in Fußgängerzonen herumlaufen. Es muss doch nur jemand schnell ein Messer zücken, es wäre ganz leicht, mich umzubringen, besonders in vollen Bussen.

Ich kann mir kaum vorstellen, wie es sein muss, aus einem Kriegsgebiet zu kommen, kriegstraumatisiert zu sein. Adnan Softic kommt aus dem ehemaligen Jugoslawien, er spricht von seinem Trauma als Kapital, seine Kunst beschreibt er einmal als Traumaunterhaltung.
In dem Video geht es um den Umgang mit der Vergangenheit, mit Erinnerungen, vor allem mit Traumata, die immer wieder zu Einbrüchen im (Welt-)Vertrauen führen. Um die im Mainstream verbreitete Brutalität einer Schwamm-Drüber-Logik (Softic selbst spricht vom Schwamm-Drüber), der zufolge es auch einmal gut sein muss, und wozu soll man immer wieder alte Kamellen aufwärmen. Und genau diese Logik ist es dann, die neuen Hass schürt, denn all die Kraft, die aufgebracht wird, um nicht an etwas denken zu müssen, etwas nicht fühlen zu müssen, sich verbietet, etwas betrauern zu dürfen, tut sich dabei die ganze Zeit selbst Gewalt an. Wenn man immer weiter Luft in einen Fahrradschlauch pumpt, ohne dass die Luft aus dem Ventil entweichen kann, dann platzt der Schlauch irgendwann. Wo und wann er platzt, ist dann nicht mehr kontrollierbar. Es wäre besser gewesen, genauer über die Funktion von Ventilen nachzudenken. Sofort finde ich mein Urteil anmaßend, meine Metapher mechanistisch und brutal. Auch das davor Geschriebene ist problematisch, denn es lässt offen, wer in dieser Schwamm-Drüber-Logik Opfer ist und wer Täter. Und das geht überhaupt nicht. Ich lasse es trotzdem stehen und füge hinzu: Eigentlich ist es natürlich die Logik der Täter, bin mir dann aber doch nicht sicher.

Und mein Eindruck ist, dass Softic genau dieses Problem in den Blick nimmt: An welchen Punkten traumatisierte Opfer selbst zu Tätern werden, oder umgekehrt, wann Täter selbst Opfer waren. Nicht um zu relativieren, nicht um gegeneinander auszuspielen, nicht um aus einer moralischen Superioritätsposition heraus Urteile zu fällen, aber trotzdem auf der Suche nach einem Standpunkt. Das macht die Sache so schwierig.
In dem Video sieht man eine Kameraeinstellung und einen Scheinwerfer, in dessen Licht unterschiedlichste Passant:innen treten, einzelne Gesichter werden kurz angestrahlt, verschwinden dann wieder im Dunkeln. Genaugenommen sieht man am Anfang nur schwarz, hört das Klappern einer Kaffeetasse, das Sirren der Kaffeemaschine, unterschwellig quälend, ich denke an Zahnarztbohrer und Folter. Ein Paar unterhält sich in einem Café und beobachtet das Treiben, man hört nur ihre Stimmen und die Cafégeräusche. Sie kommentieren die Passant:innen (die man jetzt sehen kann) nicht gerade wohlwollend. Sie lästern über die Leute ab. Die Frau fragt irgendwann: „Wer könnte von diesen Menschen hier auf Zivilisten schießen? Warum und auf wen sie schießen, das wäre egal, nicht die Leute, die den Stress machen, nur der normale Mensch.“

Der Dialog verwirrt mich, ich finde das, was sie sagt, nicht so richtig schlüssig. Wie kann sie sagen, das Warum und Auf-Wen wäre egal? Sie spielen den Gedanken an verschiedenen Passanten durch. Woran erkennt man einen Heckenschützen? Ob man es ihnen an den Augen ablesen könnte. Im Hintergrund leise Jazzmusik. „Ist es jemand,“ fragt die unsichtbare Protagonistin, „der die anderen erniedrigt? Oder doch jemand, der selbst irgendwann mal erniedrigt worden war?“ Sie fährt fort: „Man könnte dann so jemanden schonmal aussortieren, entsprechend bearbeiten.“ Wer das sein könnte? Vielleicht ein grandioser Versager, fährt die Stimme gnadenlos fort, der sich dann später bei Gelegenheit rächen wird. Es hätte bei ihnen so einen gegeben, den sie Katzenmörder nannten. Aber auch aus einem total rücksichtsvollen Menschen, in dessen Vergangenheit es nichts Schlimmes gab, könne plötzlich etwas herausbrechen.

Das Telefon klingelt, der Mann geht ran, kurzer Dialog, irgendjemand ist mit etwas fertig, sie können los. Der Mann, der sich die Überlegungen der Frau die ganze Zeit angehört hat, ohne wirklich etwas zu sagen, meint nun: „Ich überleg gerade, wie monströs und anmaßend du doch bist.“ Das Gespräch hinterlässt einen schalen Nachgeschmack. Was die Frau sagt, ist streckenweise wirklich monströs, aber die Teilnahmslosigkeit oder Gleichgültigkeit, mit der der Mann ihr zuhört, ist es auch. Sie am Ende mit seinem Urteil abzuservieren, kommt mir kalt und rücksichtslos vor. Sie urteilt über Leute, er urteilt über sie, Anmaßungspatt. Er lässt sich gar nicht richtig auf das ein, was sie sagt, er geht nicht in eine wirkliche Auseinandersetzung, er fragt nicht, wie sie sich fühlt oder warum sie das sagt.

„Sie sind fertig,“ hatte er nach dem kurzen Telefonat gesagt, sie hatten darauf gewartet, dass Leute mit etwas fertig werden. Die weibliche Protagonistin scheint Migrantin und traumatisiert zu sein. Das Problem mit Traumata ist, dass man mit ihnen fertig werden will und nicht kann. Und das Problem mit dem Fertig-Werden-Wollen – sowohl von Traumatisierten als auch von Nicht-Traumatisierten – ist, dass es eine Ursache von Gewalt ist. Traumatisierte können sich oft an Erlebnisse nicht erinnern, die dann aber unvermittelt in ihr Leben einbrechen. Symptome können Hypervigilanz und Reizbarkeit sein ebenso wie emotionale Abstumpfung (ICD-10). Traumatisierte haben nicht nur Gewalt erlebt, sondern richten diese Gewalt dann oftmals auch gegen sich selbst, unter anderem, indem sie mit aller Gewalt Erinnerungen verdrängen, aus Selbstschutz. Aber das, was man verdrängt, verdrängt man nicht nur in sich, sondern immer auch in andere. Nochmal zur Fahrradventil-Metapher: Wäre super, seine Gefühle reflektieren und dosieren zu können, aber das muss man sich auch erstmal leisten können.

Die jüdische Philosophin Judith Shklar, die selbst durch die Flucht ihrer Familie vor den Nazis traumatisiert war, hat viel über Opfer und Täter geschrieben. Ihr zufolge ist das Schlimmste, was wir tun, Grausamkeit, und diese Grausamkeit hat zu tun mit der falschen Gewissheit selbstgerechter Urteile. „Wir schaffen uns Sündenböcke, wir klagen wild an, wir fühlen uns schuldig für Handlungen, die wir niemals ausgeführt haben, wir beschuldigen jeden, der glücklicher ist als wir selbst.“ Wirkliche Opfer sind ihr zufolge „einfach Leute, die zur falschen Zeit am falschen Ort in der falschen Gesellschaft waren. Der ungerechte Mensch hat einen Charakter, das Opfer nicht einmal eine Rolle. Viele Opfer von heute werden morgen andere zu Opfer machen.“
Die Verantwortung derjenigen, die nicht traumatisiert sind, besteht darin, nicht gleich fertig werden zu wollen, in öffnende Gespräche zu gehen und nicht in abschließende, und vor allem besteht sie in der schmerzlichen Anerkennung der Tatsache, dass wir „unsere Urteile ins Ungewisse hinein treffen.“ Unbequeme (Selbst-)Zweifel auszuhalten und weiter zu bearbeiten, ohne zu relativieren, ohne zu resignieren oder zu vergleichgültigen.

 

CHRISDIAN WITTENBURG, Hamburg, Liftboy, 2021

1997 gründete Chrisdian Wittenburg mit Freunden den Verein Ute e.V., der es sich zur Aufgabe gesetzt hat, Kunst- und Kulturorte in Hamburg barrierefrei zugänglich zu machen. Ziel ist es, an 11 Orten des kulturellen Lebens der Stadt konkrete Verbesserungen zu bewirken. Das Video Liftboy zeigt eine Performance vor den Galerien der Admiralitätstraße, die Wittenburg wiederholen wird, bis sich der Zugang für Behinderte verbessert hat.
Der Künstler als Liftboy, der anderen dabei hilft, Kunst zu erleben – Menschen, die behindert sind oder, besser gesagt, behindert werden, denn wer legt die Normen dafür fest, was normal ist und wer entscheidet, ab oder bis wann jemandem geholfen oder nicht geholfen wird? Irgendwo habe ich gelesen, dass die Konstruktion von Pilotsitzen nun modifiziert werden soll, weil sie immer noch den durchschnittlichen europäischen Mann als Norm setzt. Ich bin zum Beispiel so klein, dass meine Füße bei Passagiersitzen im Flugzeug nicht auf den Boden kommen. Im Supermarkt bitte ich manchmal jemanden, mir etwas aus dem oberen Regal zu reichen, weil ich nicht herankomme. Ich bin auch schon mal auf die untere Stufe des Kühlregals geklettert, um an den Joghurt zu gelangen, weil es mir unangenehm war, andere zu fragen und hatte dann Supermarkt-Slapstick-Katastrophen-Szenarien im Kopf, in denen die gesamte Kühlwand auf mich herunterkracht. Wenn es mir schon so geht, wie geht es jemandem, der im Rollstuhl sitzt oder spastische Lähmungen hat und ständig angestarrt wird?

In dem Video sieht man, wie Chrisdian in Liftboy-Uniform einem Rollstuhlfahrer hilft, via Fahrstuhl, der nicht barrierefrei zugänglich ist, in die Galerieräume zu gelangen. Was ist das für ein Modell vom Künstler (insbesondere dem männlichen, denn Frauen stemmen sowieso noch den größten Teil der Care-Arbeit), der sich in den Dienst von anderen stellt, anderen hilft, sich die Kunst anzusehen, auf die er/sie Lust hat?

Und lässt sich der Ansatz der Barrierefreiheit nicht auch auf vermeintlich Nichtbehinderte übertragen: Kann die Kunst als Liftboy uns helfen, Barrieren im Kopf, in der Wahrnehmung, in unserer Empfindungsfähigkeit zu überwinden? Ist die Gedankenlosigkeit des Mainstreams eine Art selbstgewählter Behinderung? Irgendjemand hat mal behauptet, die meisten deutschen Politiker würden psychisch krank aussehen, ich finde das Zitat nicht. Das beschränkt sich natürlich nicht auf Deutschland, und ich weiß auch, dass psychische Krankheiten und körperliche und geistige Behinderungen nicht das Gleiche sind.

Jedenfalls ist es ein interessanter Ansatz, der Kunst die Aufgabe zuzuschreiben, Barrieren zu überwinden und in dieser Hinsicht zu befreien. Allerdings zeigen gegenwärtige Debatten um die vermeintliche Cancel Culture, dass der Begriff der Kunstfreiheit auch zum Zweck des Machterhalts instrumentalisiert werden kann. Freiheit heißt eben nicht privilegienblinde egologische Souveränität, sondern etwas Anderes. Chrisdian Wittenburg zeigt mit seiner Arbeit, wie es aussehen kann, anderen zu der Freiheit zu verhelfen, sich Kunst anzuschauen. Wie ihnen dann die Kunst gefällt, ist ihre Sache. Unsere Sache ist es, Kunst (und alles andere auch) nicht auf Kosten anderer zu machen.